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Zwischen Familien- und Organisationslogik

 - Eine Landkarte für Supervision nicht nur in Kindertagesstätten -

1. Einführung

Für die Supervision von Teams und Leitungen in Einrichtungen zur Betreuung von Kindern unter 6 Jahren (nachfolgend „Kita“ genannt) bietet sich als eine mögliche Beschreibung von Kommunikationsstrukturen und Handlungsmustern ein angepasstes Modell der Familien- und Organisationslogiken an, wie es Arist von Schlippe für die systemische Konfliktberatung in Familien und Familienunternehmen beschrieben hat.(v. Schlippe 2014)

Diese Arbeit geht der Frage nach, welche Auswirkungen die Spannung zwischen diesen Logiken von Familien und Organisationen in einer Kita hat, was dies für das Professionalitäsverständnis von Erzieherinnen bedeutet und welche konkreten Themen und Möglichkeiten sich daraus für die Supervision von Teams und Leitungen ergeben.

2. Begriffsbestimmungen

Unter einer Organisation verstehe ich nach Stefan Kühl (2011) ein soziales System, das „ [...] innerhalb der Beschränkungen durch geltendes Recht, politische Vorgaben oder wirtschaftliche Knappheiten über (seine) Zwecke, Hierarchien und Mitgliedschaften selbst disponieren - selbst entscheiden -  [... ]“ kann (v. Schlippe 2014, S. 22)

Unter „Kita“ verstehe ich eine Organisation, deren Zweck die Betreuung und Förderung von Kindern von der Geburt bis zur Einschulung in die Grundschule ist. Dabei hat sie sich an eine Fülle von rechtlichen, politischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen zu halten. Sie befindet sich in einem mehr oder weniger diffusen Umfeld sog. „gesellschaftlicher Anforderungen“ und konkreter, sich teils widersprechender Anforderungen und Wünschen seitens der Elternschaft.

Unter „Logik“ subsumiere ich mit v. Schlippe die Systemen eigentümlichen Rationalitäten und Funktionalitäten „mit (ihren) dazugehörigen eigenen Regeln und Sprachspielen“ (ebd., S. 27). In Organisationen wirken immer mehrere Systeme gleichzeitig, und sie sind aneinandergekoppelt. Diese Kopplung bewirkt das Entstehen von Paradoxien, denn es kann auf keines der Systeme und damit sich widersprechenden Haltungen oder Handlungsanforderungen verzichtet werden. Als Chef eines Unternehmens und Vater von zwei Söhnen beispielsweise kann ich bei Personalentscheidungen, die die Söhne betreffen, das „Vater-Sein“ nicht einfach weglassen, um frei von Erwägungen, die der familiären Logik entstammen, wie z.b. dem Streben nach Bindung und geschwisterlicher Gleichheit, eine aus unternehmerischer Sicht optimale Entscheidung treffen zu können.

3. Das Modell der Logiken

Von Schlippe (ebd., S. 26-34) beschreibt in seinem Modell die drei für Familienunternehmen zentral bedeutsamen Logiken:

  • Logik der Familie als Logik von Bindungserfahrungen,
  • Logik des Unternehmens als Logik von Entscheidung
  • Logik des Gesellschaftersystems als Logik juristisch geregelter Kommunikation.

Letztere Logik habe ich bei meinem Transfer in die Supervision von Leitungen und Teams in Kitas nicht übernommen, da Kitas zwar wirtschaftlich arbeiten müssen, zum Organisationszweck in der Regel aber nicht die Erwirtschaftung von Gewinn gehört.

Anhand verschiedener ausgewählter Funktionalitäten können die Logiken in Familien und Organisationen unterschieden werden:
(Hier Abbildung „Tabelle-Logiken.jpg“ einfügen)

4. Logiken und Kitas

Was für die Organisation „Familienunternehmen“ als eine naheliegende Landkarte erscheint, ist es nicht automatisch auch für die Organisation „Kita“, sind doch die Unterschiede zunächst mehr als deutlich. Kitas gehören in der Regel nicht einer Familie und sind, besonders im Bezug auf das wirtschaftliche Ziel, keine Unternehmen. Sie werden von Kommunen, Kirchen oder Vereinen in der Regel mit dem Ziel betrieben, möglichst geringe Verluste zu erzielen. Der vorrangige Zweck der Organisation Kita ist die Betreuung, Förderung und Bildung von Kindern und ihren Familien, wie sie im Kinder- und Jugendhilfegesetz (SGB VIII) und den Ausführungsgesetzen der Länder geregelt ist.

Im Laufe meiner Arbeit als systemischer Supervisor, Fortbilder und (Organisations-)Berater in Kitas habe ich aber festgestellt, dass das Modell der Familien- und Organisationslogiken für die Mitarbeiterinnen in Kitas als sehr gut handhabbar erlebt wird. Viele Situationen und Probleme in ihrer Einrichtung können sie sich damit erklären und Handlungsalternativen entwickeln. Sie stellen häufig fest, dass an vielen Stellen Funktionalitäten eher gemäß der familiären Logik und weniger nach der Organisationslogik gehandhabt werden. Notwendig ist m.E. aber die gleichzeitige Berücksichtigung der verschiedenen Logiken und das Aushalten der sich daraus ergebenden Spannungen und Paradoxien. Es geht also wieder einmal um das „Sowohl-als-auch“ und das „und“, statt um ein „Entweder-oder“. Dies halte ich für einen wesentlichen Baustein zu entwickelnder Professionalität in Kitas. Damit ist keinerlei Vorwurf an die Akteuerinnen verbunden. Es stellt sich vielmehr die Frage, aus welchen guten Gründen diese Situation entstanden ist und aus welchen anderen guten Gründen nun eine Veränderung eingeleitet werden sollte. Anders formuliert postuliere ich, dass das Übergewicht von Familienlogik die Entwicklung von sog. Professionalität behindert.

4.1. Skizzen des Alltags in Kitas auf der „Landkarte der Logiken“

Anhand von beispielhaften Themen und Situationen zu den o.g. Funktionalitäten, die regelmäßig von Teams und Leitungen in Supervisionen thematisiert werden, möchte ich skizzieren, wie die Spannung durch die unterschiedlichen Logiken aussehen kann und welche Probleme dabei entstehen können. Es gibt natürlich Überschneidungen bei den einzelnen Funktionalitäten.

4.1.1. Kommunikationsstil

Eltern wünschen sich in der Abhol- oder Bringsituation in den sog. Tür-und-Angel-Gesprächen wichtige Entscheidungen bzgl. ihres Kindes, die die Kompetenzen der Erzieherin überschreiten oder Kommentare/Meinungen der Erzieherinnen zu organisationsinternen Angelegenheiten (z.B. Personalfragen).
Spannung: Vertrauensvolle Beziehungen UND rollenbedingte Abgrenzung

Die Eltern praktizieren in der Familienlogik ihren wenig formalisierten, mündlichen Kommunikationsstil auf dem Hintergrund einer vertrauensvollen Beziehung, wo jeder über alles sprechen kann. Übernehmen Erzieherinnen diesen Stil und treffen in diesem Rahmen wichtige Entscheidungen oder geben Antworten zu Personalfragen, begeben sie sich in einen Konflikt mit dem rollenbewussten und geregelten Kommunikationsstil aus der Organisationslogik und ihrer arbeitsvertraglichen Schweigepflicht.

In Kitas werden immer wieder formalisierte Sprach- und Verhaltensregelungen gegenüber den Eltern für Situationen wie diese vermieden. Die Mitarbeiterinnen berichten oft von ihrer Befürchtung, ansonsten die gute Kooperation mit den Eltern zu gefährden. Ein aus meiner Sicht weiterer Grund ist der, dass man seitens der Kita mit der Formalisierung von Kommunikation die familiäre Atmosphäre nicht beeinträchtigen möchte. Denn genau diese wird von den Eltern eingefordert. An dieser Stelle werden die Mitarbeiterinnen mit den sich widersprechenden Gefühlen und Erwartungen auf Seiten der Eltern konfrontiert, die von der Kita eine Betreuungssituation fordern, die sich auf der einen Seite möglichst nah an der emotionalen und physischen Geborgenheit in der Familie orientiert, und die auf der anderen Seite mit einem hohen Maß an Professionalität gestaltet wird. Daraus ergibt sich dann für die Erzieherinnen der immer wieder verwirrende Wechsel zwischen den Logiken, in dem sie sich häufig für die Familienlogik entscheiden, selbst wenn es anderslautende Kommunikationsregeln seitens der Kita geben mag.

In nahezu allen Kitas, die ich kenne, ist dieser Aspekt der Familienlogik schon an der Sprache sichtbar. Bei Fallbesprechungen in Teams und Supervisionen ist nicht von den Müttern und Vätern der Kinder, sondern von den „Mamas“ und „Papas“ die Rede. Es werden Begriffe verwendet, die aus der Familienlogik stammen.

4.1.2. Kommunikationsziel

Teams besprechen bestimmte Themen immer wieder und haben den Eindruck, dass sie nie zu Entscheidungen kommen oder die Entscheidungen immer wieder revidieren.
Spannung: Bedürfnisse des Einzelnen UND Notwendigkeiten für die Organisation

Aus Sicht der Familienlogik könnte es bindungs- bzw. beziehungsgefährdend sein, eine Entscheidung zu treffen, wenn nicht die Bedürfnisse und Befindlichkeiten von allen Teammitgliedern gleichermaßen berücksichtigt werden können. Aus Familien kennen wir alle Situationen und Diskussionen, die sich über Jahre, wenn nicht Jahrzehnte hinweg wiederholen, ohne dass die Beteiligten etwas verändern. Dies kann man auch als Ausdruck der Entscheidung sehen, zugunsten der Aufrechterhaltung von Bindung bzw. Beziehung dauerhaft im Dissens zu bleiben und diesen gleichermaßen als nicht aufgelöste Variable in der Beziehung mitzunehmen. In der Organisationslogik sind Entscheidungen allerdings überlebenswichtig. Nach Luhmann bestehen Organisationen sogar nur solange, wie Entscheidungen getroffen werden.(Luhmann, 2011)

4.1.3. Übergeordnetes Kriterium des Entscheidens

Spannung: Persönliches Wohlergehen der Mitarbeitenden UND Funktionalität der Organisation
Zum dem Beispiel aus 4.1.2 passt auch die Funktionalität der Entscheidungskriterien.
So kann der Blick auf das Wohlergehen aller aus der Familienlogik Entscheidungen im Team verhindern. Es könnte Entscheidungsfolgen geben, die für einzelne Teammitglieder vermutet oder tatsächlich von Nachteil sind, für die Funktionalität der Organisation aber gleichzeitig von maßgeblicher Bedeutung.

Dienstpläne in Kitas sind ein gutes Beispiel, an dem sich vor allem für Leitungen oder die Dienstplanverantwortlichen, die Widersprüche von Familien- und Organisationslogik deutlich zeigen. Ein funktionierender Dienstplan ist auf der einen Seite die Basis einer funktionierenden Kita und auf der anderen Seite das, was das Wohlergehen der einzelnen Mitarbeiterinnen sehr grundsätzlich und nachträglich beeinflussen kann. In Zeiten sich rasant verändernder Betreuungszeiten und Einrichtungsstrukturen gibt es auf der Organisationsseite hohe Anforderungen an die Flexibilität der Mitarbeiterinnen. Diese hatten in der Regel bisher Arbeitsbedingungen, die an ihre Lebensbedingungen angepasst sind und nicht umgekehrt. Dieses Konfliktfeld verstärkt sich momentan. Für den hohen Frauenanteil an den Mitarbeitenden in Kitas höre ich häufig die Begründung, dass es bisher recht einfach war, dort einen ausreichend flexiblen Arbeitsplatz zu bekommen. Die Umsetzung der politischen Forderungen nach einem Höchstmaß an Flexibilität von Kitas und der entsprechenden Gesetzgebung führt nun zu den neuen Anforderungen an die Mitarbeiterinnen.

Der Umgang mit dieser Spannung, die sich aus den wichtigen und zumeist gegensätzlichen Bedürfnissen von Organisation und Person ergeben, kann nach meiner Erfahrung durch das Modell der Logiken für die Entscheiderinnen erträglicher gemacht werden. Sie bekommen eine entlastende theoretische Grundlage für die Notwendigkeit unangenehmer Entscheidungen und können deutlich machen, dass dies zu ihrer Rolle gehört und nicht in ihr persönliches Ermessen gestellt ist oder gar als Ausdruck einer gestörten Beziehung zu Kolleginnnen zu werten ist.

4.1.4. Entscheidungsprinzip

Es gibt im Team ein ungeschriebenes Gesetz und/oder die immer wieder mündlich formulierte Erwartung aller Teammitglieder, dass Entscheidungen im Konsens aller getroffen werden. Dies wird von der Leitung unterstützt, da ihr eine gute Stimmung und die Motivation im Team wichtig ist.
Spannung: Mitbestimmung UND zu Entscheidungen führende Prozeduren oder Prozesse.

Zur Bewahrung des Wohlergehens aller ihrer Mitglieder ist es in der Logik von Familien notwendig, bei Entscheidungen Einigkeit anzustreben. Konsens ist in der Organisationslogik allerdings kein übergeordnetes Entscheidungskriterium. Eine Organisation funktioniert auch mit Entscheidungen ohne Konsens (und zeitweise sogar mit der daraus resultierenden schlechten Stimmung!) und benötigt eine festgelegte Entscheidungsprozedur. Dies ist eine Vorstellung, die für Leitungen und Teams manchmal befremdlich erscheint. Bei einem zweiten Blick wird dann auch der entlastende Aspekt sichtbar.

Fragen nach dem Ablauf von Entscheidungen und hier besonders nach dem gültigen  Abstimmungsmodus erzeugen in Kitas meiner Erfahrung nach immer wieder Klärungsbedarf. Es gibt häufig keine definierten Prozeduren für die Entscheidungsfindung. („Wir werden uns schon irgendwie einig.“)

4.1.5 Kriterien bei Personenentscheidungen

Entscheidungen bzgl. Teilnahme an Fortbildungen, Einsatzort in der Kita u.ä.
Spannung: Alle sollen die gleichen Möglichkeiten haben UND die Organisation muss Unterschiede nach Leistung und Kompetenz machen.

Bei Personenentscheidungen und damit der Personalführung gibt es meiner Ansicht nach zwei wesentliche Besonderheiten: zum einen die Häufung verschiedener Funktionalitäten und zum anderen mit dem Träger der Kita zusätzliche Akteure.

In der Organisationslogik sind bei Personenentscheidungen Kompetenz und Funktionalität wesentliche Entscheidungskriterien. Diese werden in Kitas, unabhängig von den aktuellen Problemen, geeignetes Fachpersonal zu finden, nach meiner Erfahrung immer wieder nicht ausreichend berücksichtigt. Stattdessen wirken stark Prinzipien der Familienlogik, wie Gleichheit und das Aufrechterhalten von Bindung und das Wohlergehen aller.

So kommen z.B. Situationen zustande, wo es in Teams (bis zu drei!) ehemalige Leiterinnen gibt, die alle ihre Leitungstätigkeit aus den unterschiedlichsten Gründen beendet haben oder beenden mussten und auf „eigenen Wunsch“ in „ihrer“ Kita „nur noch“ als Fachkraft im Gruppendienst arbeiten. Was der einen zugestanden wurde, musste auch den anderen ermöglicht werden. Dass diese Konstellationen erhebliche Auswirkungen auf die Funktionalität eines Teams in der Kita haben können, muss ich hier nicht betonen.
Auch Fragen von z.B. Arbeitsqualität, Leistungsbereitschaft und chronischen Erkrankungen bei Mitarbeiterinnen in Kitas, um nur einige zu nennen, werden immer wieder nahezu ausschließlich in der familiären Logik entschieden oder scheinbar  nicht, d.h. es wird der Status quo beibehalten. Die Notwendigkeit des Einbringens der Organisationslogik wird seitens der Leitungen und Träger durchaus gesehen. Die Umsetzung scheitert aus meiner Sicht u.a. aber an der hier besonders stark wirkenden Familienlogik.

4.1.6. Währung

In einer Fallbesprechung wird deutlich, dass das Helfersystem in der Kita noch nicht alle Möglichkeiten genutzt hat, um zu versuchen, die Situation des besprochenen Kindes nachhaltig zu verbessern. Das erforderliche Elterngespräch wird immer wieder verschoben.
Spannung: Beziehung UND fachliche Position

In Kitas gelten die Beziehungen zu den Kindern und deren Eltern (manchmal auch in umgekehrter Reihenfolge) als das, was zählt und werden zu einer Währung, die ihren Ursprung in der Familienlogik hat. In Teams kann es unausgesprochene Ranglisten geben, in denen die Erzieherinnen als die stärksten gelten, die die besten Beziehungen zu den Eltern haben. Erzieherinnen haben immer wieder das Gefühl, dass die Eltern in Konfliktsituationen mit dieser kostbaren Währung „handeln“ und für den Fall von Konflikten mit dem Entzug von Vertrauen und der Beeinträchtigung der Beziehung drohen (könnten), wenn nicht sogar mit der Herausnahme des Kindes aus der Kita. Mindestens ebenso häufig sind nach meiner Erfahrung die Fälle, in denen die Angst vor diesem drohenden Verlust das Handeln der Pädagoginnen beeinflusst oder bestimmt.
In der Organisationslogik ist das, was an dieser Stelle zählt, die pädagogische Leistung. Für Kitas bedeutet dies, dass von den handelnden Fachfrauen unter Berücksichtigung des Beziehungsaspektes die Entwicklung und Vertretung von fachlichen Positionen erwartet wird. Dies kann, muss aber nicht zu Gefährdungen der Beziehungen zu Eltern und Kindern führen. Der Begriff der „fachlichen Positionierung“ führt unmittelbar zur „Professionalisierung“. Am Beispiel der Funktionalität „Währung“ mit dem Wert „Beziehung“ bedeutet professionelles berufliches Handeln in Kitas, dass die Pädagoginnen unabhängig von möglichen Gefahren für Beziehungen fachliche Positionen zu den jeweils relevanten Themen und Problemen entwickeln müssen. Der Umgang mit den Auswirkungen auf die Beziehungen, in welcher Weise auch immer, ist dann Teil der Arbeit, die zu leisten ist.
Gerne konzediere ich an dieser Stelle, dass viele Erzieherinnen in Kitas für diesen, m.E. zentralen Teil ihrer Arbeit noch immer nicht ausreichend ausgebildet sind und werden.

4.1.7. Kriterium für Gerechtigkeit

Spannung: Beziehung UND Leistung
Gerecht zu sein erscheint unmöglich, da jeder seine eigene subjektive Definition von Gerechtigkeit hat. Ungerecht zu sein, gehört aber zu den Vorwürfen, die viele Eltern am meisten treffen. Um diesem Vorwurf nicht ausgesetzt zu sein, versuchen sie daher trotzdem immer wieder das Unmögliche, nämlich gerecht zu sein. Mit diesem kreisläufigen Mechanismus sehen wir uns zumindest in der Familienlogik immer wieder konfrontiert.
In Kitas findet sich diese Funktionalität an vielen Stellen. Z.B. in Auseinandersetzungen zu Arbeitsbedingungen (siehe auch 4.1.3) kann das überwiegende oder ausschließliche Denken und Handeln in der Familienlogik zu Stillstand führen.
Der Begriff „Leistung“ hat es im Sozialwesen nicht leicht, wird hier doch seitens der Mitarbeitenden immer wieder auf die mangelnde Messbarkeit der Qualität von Beziehungen und damit auf ein prinzipielles Problem bei der Definition von „Leistung“ hingewiesen. So ist die beziehungsorientierte Familienlogik sozusagen sofort „mit im Boot“.
Nach meiner Erfahrung gibt es eine zunehmende Bereitschaft sich mit dem Leistungsbegriff auseinanderzusetzen. Dies hängt aus meiner Sicht damit zusammen, dass es mittlerweile eine Fülle an Aufgaben für Kitas gibt, für deren Erfüllung Kompetenzen definiert werden und deren Erledigung als Leistung gewertet wird. Kitas müssen sich mit dem Qualitätsbegriff auseinandersetzen und diskutieren, woran sie erkennen, dass sie gut arbeiten.

5. Hypothesen zur Entstehung des Übergewichts der Familienlogik in Kitas

5.1. Vom Satelliten zum Planeten

Das (Selbst-)Verständnis von Kitas als Spielstube, in der die Kinder hauptsächlich vormittags mit „Tanten“ (meine Kindergärtnerin heiß Tante Inge und trug immer einen weißen Kittel) spielten, hat sich gewandelt hin zu einer Institution mit einer ständig wachsenden Zahl an gesellschaftlichen Mandaten (z.B. Kinderschutz, Familienförderung) und Aufträgen, die sich immer weiter ausdifferenzierende pädagogische Kompetenzen erfordern. Aus dem Familiensatelliten Kindergarten ist ein Planet mit eigener Umlaufbahn und Gravitation geworden.
Diese neue Eigenständigkeit bringt die Notwendigkeit der Professionalisierung der Akteurinnen und eine größer werdende Bedeutung der Organisationslogik mit sich. Somit wächst die Spannung zwischen den Logiken und das Erfordernis, sie auszuhalten. Beschreiben Mitarbeitende in Kitas, dass alles „irgendwie“ anstrengender geworden ist gegenüber „früher“, so trägt dieser Prozess sicher seinen Teil zu diesem Gefühl bei.
Da die Mitarbeiterinnen in Kitas noch am Anfang ihrer Professionlisierungsentwicklung stehen, ist das noch bestehende Übergewicht der Familienlogik nachvollziehbar. Es entsteht u.a. durch das Mitbringen entsprechender Berufserfahrungen aus der Zeit, als der Kindergarten sich als Dependance der Familien verstanden hat.

5.2. Ausgesprochene und verdeckte Aufträge

Neben der Geschichte der Organisation spielen im aktuellen Alltag von Kitas die Familien, aus denen die Kinder kommen, mit ihren Aufträgen eine wesentliche Rolle. Es gibt die ausgesprochene oder unausgesprochen und zwischen den Zeilen spürbare Forderung der Eltern an die Kita, ihre Kinder während der Abwesenheit aus der Familie emotional minimal zu belasten, indem es so familienähnlich wie möglich zugeht. Dieser Wunsch hat seinen Ursprung zum einen in der Idee, dass die Kita für die Kinder so besser und förderlicher zu bewältigen ist. Zum anderen entlastet es auch das schlechte Gewissen der Eltern, ihren Kindern einen Aufenthalt außerhalb der Familie zuzumuten. Diese Ambivalenz der Eltern bezüglich der auswärtigen Tagesunterbringung ihrer Kinder spiegelt sich in sich scheinbar widersprechenden Aufträgen, wie z.B.: „Unser Kind soll in einer Art Familienersatz betreut werden, in dem aber keiner mit uns als Eltern konkurrieren darf.“  Oder: „ Seid perfekt organisiert und gleichzeitig familiär.“

5.3. Persönlicher und privater Kontext der Mitarbeitenden

Viele Mitarbeitende in Kitas sind selber Eltern und bringen das Denken in der Familienlogik aus dem privaten Kontext mit in die Organisation. Möglicherweise sind sie Erzieherin geworden, weil sich die Gestaltung der Arbeitszeit mit den familiären Bedürfnissen gut vereinbaren lässt. Zumindest höre ich immer wieder von dieser Motivation, Erzieherin geworden zu sein.

Eher grundsätzlicher Natur ist die Beobachtung, dass wir im Aushalten von Spannungen nicht nur nicht geübt sind. Wir sind im Prinzip der ständigen Verführung ausgesetzt, ihnen aus dem Weg zu gehen, indem uns für eine der Spannungen erzeugenden Seiten entscheiden. Im Kontext Kita wird den Mitarbeiterinnen diese Entscheidung für eine Seite durch die Schutzbedürftigkeit ihres Klientels noch etwas näher gelegt. Den Kindern möchte man Spannungen und Konflikte ersparen. Auch wenn man ihnen dadurch wesentliche Lern- und Entwicklungserfahrungen nimmt (Z.B. Retzer 2013 Seite S.75-164).

6. Konkrete Ansätze für Supervisionsprozesse in Kitas

- Die Landkarte der Familien- und Organisationslogik bietet zunächst neue Perspektiven. Dabei ist für Menschen in Kitas zwar nicht der Begriff, aber der Inhalt der Familienlogik gut bekannt. Bezüglich ihrer Wirkung und der Rolle, die sie spielen kann, wird sie aber neu gesehen. Die Organisationsperspektive ist zunächst eher ungewohnt, kann aber häufig schnell eingenommen werden.

  • Ein weitere und bisher neue Perspektive ergibt sich durch die Loslösung von der Frage nach der persönlichen Verantwortung von Mitarbeiterinnen für bestimmte Entwicklungen hin zur Perspektive, in welchem Kontext sich die Kita befindet.
  • Besonders für die Leitungskräfte ergibt sich die „Erlaubnis“ für die Einnahme der organisationalen Perspektive aus der Erkenntnis, dass dies eine Grundvoraussetzung für das Funktionieren der Organisation ist.
  • Daraus leitet sich für alle Mitarbeitenden (nicht nur für die Leitung) die Notwendigkeit und Berechtigung für Entscheidungen ab: für die einvernehmlichen und für die mit Konflikten verbundenen.
  • Zunächst als Dilemma empfundene Situationen können geklärt werden, denn im Zweifel müssen Individualinteressen zurückstehen gegenüber den Interessen der Organisation (Simon 2012, S. 119).
  • Für einige der sogenannten Kommunikationsprobleme in Teams steht nun eine Perspektive zur Verfügung, aus der heraus klar werden kann, dass man etwas als schwierig oder störend empfindet, weil es einer anderen Logik entstammt und nicht, weil eine Kollegin schlechte Absichten verfolgt.
  • Die mit der Landkarte der Familien- und Organisationslogik deutlich werdende Widersprüchlichkeit in den Aufrägen der Eltern kann zu einer neuen Sicht auf die Beziehungen und die Arbeitsansätze führen.

Schluss

Das Modell von Familien- und Organisationslogik lässt sich auf andere Bereiche, wie z.B. Teams, die schon sehr lange zusammenarbeiten, übertragen.
Es ist mir dabei wichtig, deutlich zu machen, dass es nicht DAS Erklärungsmodell für Kommunikationsprobleme in Kitas ist, sondern EIN denkbares, das man ausprobieren kann.
Den wesentlichen Vorteil dieses Modells sehe ich in seinem Bezug zur Idee von Professionalität. Mit „der Organisation“ und ihrem Bedarf an Entscheidungen und Funktionalität wird quasi ein weiterer Akteur eingeführt und Professionalität bedeutet, diesen Akteur genauso in den Blick zu nehmen wie Kolleginnen oder Mitarbeiterinnen. Mit anderen Worten: Professionalität in Kitas bedeutet, die Spannungen zwischen Familien- und Organisationslogik bewusst auszuhalten und sogar zu nutzen. Eine Erzieherin hat diesen Gedanken in einer Supervision bei der Vorstellung des Modells treffend zusammengefasst: „Es tut weh und es macht Sinn.“

Literatur

Kubitza, R. (2016). Needback - Rückmeldungen in Supervision und Entwicklungsmaßnahmen für Teams. http://www.kubitza-beratung.de/downloads/category/4-konzepte.html (zuletzt abgerufen 03.01.2018).
Kühl, S. (2011). Organisationen - Eine sehr kurze Einführung. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissensschaften/Springer Fachmedien GmbH.
Luhmann, N. (2011). Organisation und Entscheidung. 3. Aufl. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissensschaften/Springer Fachmedien GmbH.
Retzer, A. (2013). Miese Stimmung - Eine Streitschrift gegen positives Denken. Frankfurt/M.: Fischer Taschenbuch.
Schlippe, A.v. (2014). Das kommt in den besten Familien vor ... - Systemische Konfliktberatung in Familien und Familienunternehmen. Stuttgart: Concadora Verlag.
Simon, F. B. (2012). Einführung in die Theorie des Familienunternehmens. Heidelberg: Carl-Auer.